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Geschichte

Auch im Kanton Schwyz war die Textilindustrie die Schrittmacherin der Industrialisierung. Allerdings stand hier die Verarbeitung von Seide und nicht von Baumwolle im Vordergrund. Dabei handelt es sich um Schappe oder Florettseide, ein Seidengarn, das aus Rohseidenabfällen und aus der Seide beschädigter Kokons hergestellt wird. Die Schappeverarbeitung hat sich in Gersau bis heute behaupten können. Der Text stammt zum grössten Teil aus der Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz, 100/2008, S. 208-211, geschrieben von Dr. Erwin Horat.

-1728-

DIE ANFÄNGE DER SCHAPPEVERARBEITUNG IM STAND SCHWYZ

Augustin Reding (1687–1772) gründete 1728 in Schwyz einen Verlag zur Fabrikation von Florettseidengarn. Damit ist er der «Stammvater» der Schappeverarbeitung im Stand Schwyz. Der erste Eintrag im Schwyzer Ratsprotokoll, der sich mit Augustin Redings Unternehmen beschäftigt, stammt aus dem Jahr 1729 und hält fest, dass auch für Seide Zoll bezahlt werden müsse: «Vor gesessenem Landt Rhath den 23. Augstmonat 1729: Sind citiert erschienen Herr Landtvogt Augustin Reding und Herr Richter Frantz Xaveri Wüerner wegen ihrer Siden [...], das auch ein billicher Zohl bezalt werden solte, Ist nach gethaner Veranthworthung erkent, das Herr Landvogt Reding dise Siden Wahr aus dem Kornhaus thuon und weilen man gesinnet Korn darin zu legen, solches innerthalb erst 14 Tägen säubern lassen solle, den Zohl belangend, befunde man schuldig und anständig, das von der Siden, so widerumben us dem Land geführt wird, ein billicher Zohl dem Land bezalt werden solte, ist aber ein Uhrtel abzufassen, ingestellet worden.»

Am 7. Mai 1730 erteilte die damalige Obrigkeit der Republik Gersau dem Landschreiber Sebastian Melchior Rigert die Bewilligung, auf der Bachstatt am See Seide zu fäulen und zu waschen. Rigert handelte im Auftrage von Josef Augustin Reding aus Schwyz, dem eigentlichen Begründer der Gersauer Seidenindustrie. Reding war die entsprechende Bewilligung von der Schwyzer Behörde verweigert worden. In der Folge entwickelte sich die Florettseiden-Industrie in Gersau rasch. 

1730

-1730-

GERSAU RÜCKT INS ZENTRUM

1730 genehmigte der Rat von Gersau Melchior Rigert, einem Ferger von Augustin Reding, die Errichtung einer Seidenfäule in Gersau. Warum Augustin Reding diesen Schritt in Gersau und nicht in Schwyz unternahm, ist unklar. Die Überlieferung will wissen, dass der Rat von Schwyz ein entsprechendes Gesuch abgelehnt habe, weil das Seidenfäulen eine «stinkende» Angelegenheit war. Im Schwyzer Ratsprotokoll findet sich allerdings keine Belegstelle, die von der Abweisung eines solchen Begehrens handelt. Möglicherweise spielte die verkehrsmässig günstige Lage am Vierwaldstättersee die entscheidende Rolle. Denn auf dem Seeweg wurde das Rohmaterial, das aus Italien stammte, von Flüelen her transportiert. Und auch für die Weiterverarbeitung der rohen Seide bot der See die einfachsten Transportverbindungen.
Was auch immer der Grund für die Errichtung der Seidenfäule in Gersau gewesen ist, der Entscheid beeinflusste Gersaus Wirtschaftsentwicklung nachhaltig. In der Folge arbeiteten bis zu sieben Gersauer als Ferger (Seidenausteiler) für auswärtige Verleger wie Augustin Reding (Schwyz) oder Heinrich Imbach (Luzern). Dabei lernten sie das Seidengewerbe gründlich kennen und erwarben so die Kenntnisse, die den Schritt zum selbstständigen Seidenverleger ermöglichten.

-1760-

DIE GERSAUER SEIDENHERREN

Johann Anton Küttel (1725–1808) schaffte als erster Gersauer den Schritt zum Verleger. Er gründete 1760 die Firma «Johann Anton Küttel & Co.», die bald florierte. Dabei konnte Johann Anton Küttel auf die Unterstützung seines Stiefbruders, des Einsiedler Stiftstatthalters und späteren Fürstabts Beat Küttel, zählen.
Landschreiber Andreas Camenzind (1706–1772) war der Initiant des zweiten Verlagshauses, der Firma «Andreas Camenzind & Sohn» (1771). Nach dessen frühen Tod führte der Sohn Josef Maria Anton Camenzind (1749–1829) das Geschäft weiter und brachte es in kurzer Zeit zu grosser Blüte; er war der reichste Seidenherr. Bei seinem Tod hinterliess er ein Vermögen von 442’786 Gulden, zu Lebzeiten hatte er seinen Kindern bereits über 300’000 Gulden ausbezahlt.
Johann Melchior Camenzind (1730–1776) gründete 1773 das Unternehmen «Johann Melchior Camenzind & Sohn». Die nötigen Kenntnisse hatte er als Teilhaber von Johann Anton Küttel erworben, mit dem er sich 1773 überwarf. Auch dieses Unternehmen gedieh unter der Leitung des Sohns Johann Caspar Camenzind (1754–1831) und war am Ende des 18. Jahrhunderts das grösste Verlagshaus der Innerschweiz.
Die Gersauer Seidenherren verschafften Menschen in einem grösseren geografischen Einzugsgebiet Arbeit und Einkommen. Dazu gehörten Gersau, das Alte Land Schwyz, die Region Einsiedeln, das Engelberger Tal sowie Dörfer in den Kantonen Uri und Zug. Ihre Zahl belief sich im späten 18. Jahrhundert auf etwa 9000 bis 10000 Personen.
An der Spitze eines Seidenhauses stand der Verleger. Er war für den Einkauf der Rohware besorgt, beauftragte die Ferger mit der Verarbeitung der Seide und war für den Verkauf der Produkte verantwortlich. Bei ihm lag das unternehmerische Risiko. Für eine erfolgreiche Tätigkeit war er auf gute Handelsbeziehungen angewiesen.

-1771-

DER WANDEL

Die drei Gersauer Seidenhäuser wirtschafteten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts höchst erfolgreich, was sich an ihren repräsentativen Wohnhäusern und den grossen vererbten Vermögen ablesen lässt. Georg Küttel, Mitbesitzer der Firma «Johann Küttel & Co.» erbaute 1782 den «Hof», Johann Melchior Camenzind, der Inhaber der Firma «Johann Melchior Camenzind & Co.» errichtete 1776 das Grosslandammannhaus, und Josef Maria Camenzind, Mitbesitzer der Firma «Andreas Camenzind & Sohn» war der Bauherr der Villa «Minerva».
Aufschlussreich ist die Debatte im späten 18. Jahrhundert über die Vor- und Nachteile der Hausindustrie. Die Befürworter strichen die verbesserten Lebensbedingungen hervor; dank des höheren Einkommens liessen sich diese verbessern. Im Fall von Gersau hielt ein Bericht über Gersau im Jahr 1797 fest: «… die sich ein beträchtliches Vermögen gesammelt und schöne Häuser gebauet, ohne dass ihre alte frugale Lebensweise darunter gelitten hätte; und es sind auch ohne Zweifel diese neuen Nahrungsquellen, die sie ihren Mitbürgern verschafften, welche seither die Volkszahl um beynahe einen Drittheil vermehrt haben.»
Andere Stimmen standen der Heimarbeit kritisch gegenüber. Dabei rückten moralisch-sittliche Motive in den Vordergrund. Die in der Heimarbeit Beschäftigten würden sich dem Luxus ergeben und ihrer ursprünglichen Lebensweise immer mehr entfremdet. Damit entsprachen sie nicht dem Idealbild des «unverfälschten, reinen» Menschen, das viele
Reisende im 18. Jahrhundert in der «Alpenidylle» zu entdecken hofften. Daraus resultierte auch deren Irritation, die Hirten anzutreffen hofften. Christoph Meiners, der in den 1780er-Jahren zweimal die Eidgenossenschaft bereiste, äusserte sich folgendermassen: «Dies Caffeetrinken und Calbfleischessen hat sich aus den Wohnungen und Werkstätten der Fabrikarbeiter in die Sennhütten auf den höchsten Alpen verbreitet, wo sich die Sennen statt des Ziegers und der Käsemilch, die vormals fast ihre einzige Nahrung war, mit dem köstlichsten Caffee und dem ausgesuchtesten Kalbfleisch und selbst mit Backwerk laben.»

DER SCHRITT ZUR MECHANISIERUNG

Die aufkommende Mechanisierung der Seidenherstellung in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts setzte auch den Gersauer Unternehmen zu. Es überlebte schliesslich ein einziges Unternehmen, jenes 1771 von Josef Maria Anton Camenzind gegründete, seines kleinen Wuchses wegen, der „Kleine Landammann“ genannt. Er war im Geschäft ebenso erfolgreich wie in der Politik, wurde von den Bürgern mehrmals zum Landammann der Republik gewählt und sass auch im Senat der Helvetischen Regierung. 1846/47 wurde die erste grosse Seidenfabrik im „Eggi“ erstellt, der 1859/60 jene in der „Bläui“ folgte. 1861 bereits wurde die dritte Fabrik, die „Seefabrik“ gebaut. Grosse Fabrikgebäude waren die Folge der rasch sich entwickelnden Mechanisierung der Seidenverarbeitung. Grundlage für die Mechanisierung war aber das Wasser. Alle drei Fabriken sind am Dorfbach gebaut worden. Das Wasser vom Rigiberg wurde für den Antrieb der Maschinen benötigt und über den See ist der Rohstoff angeliefert und die Seidenprodukte abgeliefert worden.

DIE KRISE

In den frühen 1870er-Jahren liefen die Geschäfte wegen des Deutsch-Französischen Kriegs sehr schlecht, dazu kamen interne Schwierigkeiten. 1875 musste der Konkurs ausgesprochen werden. Dieser Schlag traf Gersau schwer, denn das Dorf lebte von und mit der Seidenindustrie. 1880 wurde der Betrieb wieder aufgenommen, musste aber bereits 1884 erneut aufgegeben werden. Die schwere Krise, die der Bankrott auslöste, lässt sich am einfachsten mit den Bevölkerungszahlen belegen. 1870 betrug sie 2270 Personen, 1880 war sie auf 1775 Personen zurückgegangen; 1900, nach der Inbetriebnahme der Seidenverarbeitung, war sie auf 1887 Personen angestiegen. Mehrere Jahre standen die drei einst stolzen Fabriken still. Ab 1890 nahmen sich verschiedene Banken der Fabriken an und versuchten, den Betrieb wieder aufzunehmen, mit mässigem Erfolg.

-1892-

NEUBEGINN

1892 erwarben Hermann Camenzind (1854–1916) und Caspar Josef Camenzind (1851–1911) die drei Seidenfabriken und deren Zubehör aus der Konkursmasse und wagten den Neubeginn der Seidenverarbeitung in Gersau. Sie stürzten sich nicht blindlings in dieses Wagnis, sondern verfügten als Inhaber der Florettspinnerei Altdorf (seit 1887) über die nötigen kaufmännischen und technischen Kenntnisse. Sie brachten das Unternehmen trotz beträchtlicher Schwierigkeiten auf Kurs. 1898 konnte beispielsweise der Dampfmaschinenbetrieb durch elektrische Energie ersetzt werden. 1904 schied Hermann Camenzind aus der Firma aus, die nun in «Camenzind & Co.» umbenannt wurde. Nach dem Tod von Caspar Josef Camenzind übernahmen dessen Söhne Josef und Werner und später dessen Söhne, Walter und Otto Camenzind (1902-1965) in der Folge die Leitung der Spinnerei. Die Fabrik im „Eggi“ brannte 1926 nieder, und wurde nicht wieder aufgebaut. Die dritte Generation und ihre Nachfolger führten das Unternehmen durch die schwierigen Jahre der beiden Weltkriege in die Aufschwungphase nach 1945. 1965 übernahm die vierte Generation mit Walter Camenzind-Auf der Maur, Richard Camenzind-Kühn und Theodor Beeler-Camenzind  den Betrieb. Mit Paula Camenzind-Rigert und Jeannette Camenzind-Hobi gehörten damals erstmals Frauen der Firma als Gesellschafterinnen an. Am 28. März 1994 entschieden sich die Gesellschafter, eine Aktiengesellschaft zu gründen. 1996 stieg Theodor Beeler-Camenzind  aus.

Der grosse Brand

Ein einschneidendes Ereignis war der Fabrikbrand von 1926. Die obere/hintere Fabrik, die grösste der drei damaligen Fabriken, brannte in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1926 vollständig nieder. Es wurde niemand verletzt, aber es entstand ein grosser Sachschaden. In diesem Fabrikgebäude hatte die Verarbeitung der Rohstoffe zu Garnen stattgefunden, weshalb dessen Zerstörung die Produktion über längere Zeit lahm legte. Vor allem Arbeiterinnen waren vom Brandfall betroffen. Ein Grossteil von ihnen wurde entlassen. Dies war wohl auch der Grund, weshalb das Arbeiterinnenheim im selben Jahr geschlossen wurde. Die Camenzind & Co. entschied, die obere Fabrik nicht wieder aufzubauen und stattdessen die beiden anderen Standorte für die Produktion aufzuwerten.

Soziale Einrichtungen

Die Camenzind & Co. unterhielt früh diverse soziale Einrichtungen. Die Quellen hierzu sind jedoch rar. Beispielsweise betrieb die Firma ab 1897 bei der mittleren Fabrik ein Arbeiterinnenheim, welches nach dem Fabrikbrand von 1926 aufgelöst wurde. Von 1893 bis in die 1930er-Jahre ist ein Wöchnerinnenverzeichnis überliefert und bis ca. 1992 beschäftigte die Firma italienische Ordensschwestern, die sich um die Kinderbetreuung im eigenen Hort kümmerten. Ausserdem vermietete Camenzind & Co. zahlreiche preiswerte Wohnungen an ihre Mitarbeitenden, wozu auch das 1969 eingeweihte Personalhaus mit Kinderhort und Aufenthaltsraum gehörte.

Im Jahr 1920 hatte die Firma die Angestellten- und Arbeiterfürsorgestiftung der Floretspinnerei Camenzind & Co., Gersau, mit einem Stiftungskapital von Fr. 421‘756.84 gegründet, welches bis in die 1960er-Jahre auf rund Fr. 2 Mio. anwuchs. Diese Stiftung bildete sozusagen das Dach aller firmeneigenen sozialen Einrichtungen und verfolgte laut Art. II der Stiftungsurkunde folgende Zwecke: Gründung und Betrieb von „Pensionsfonds, Krankenkasse, Arbeiterheim, Ferienheim, Kinderkrippe, Kleinkinderschule, Fortbildungsschule, Wöchnerinnenunterstützung, Bau von Arbeiterwohnhäusern etc. etc.“. Daneben gehörte laut Stiftungsurkunde „die Unterstützung bedürftiger Angestellter und Arbeiter, sowie deren Familien“ wie auch die „Schaffung von Gelegenheiten zur Belehrung, Unterhaltung und Betätigung der Angestellten und Arbeiter“ zu deren Aufgaben. Von den meisten Betätigungsfeldern sind keine Quellen mehr überliefert und somit ist ihr Wirken kaum mehr nachzuvollziehen.

Bis 1960 wurden die Beiträge aus den Erträgen des Stiftungskapitals entrichtet, welches durch die Firma geäufnet und erweitert worden war. Erst danach zahlten auch die Versicherten Beiträge in die neue Pensionskasse ein, die auf den 1.1.1961 in Ergänzung zur Fürsorgestiftung eingerichtet wurde. Die firmeneigene Pensionskasse bestand bis zur definitiven Einführung des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) 1987 und wurde danach in die VOSKA (Vorsorgestiftung der Schweizerischen Kreditanstalt) überführt.

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-2004-

DIE FÜNFTE GENERATION

Die „Seefabrik“ ist 1996 stillgelegt und der ganze Betrieb in der „Bläui“ in der sog. „Mittleren Fabrik“ zusammengelegt worden. Die notwendige Produktionsfläche ist durch Erweiterungsbauten in den Jahren 1939, 1946, 1954, 1989, 1996 und 2001 geschaffen worden. 1994 ist die Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft mit dem Namen Camenzind + Co. AG übergegangen. Heute wird die Spinnerei in der fünften Generation von Nicole Camenzind und Mathias Camenzind  weitergeführt.

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